Ein Kind verschwindet – ein beliebter Filmstoff. In der Regel wird die Verzweiflung der Eltern gezeigt und ihre Angst, oder die Vorgeschichte des Verschwindens, vielleicht
Probleme zuhause, Missbrauch oder auch eine Entführung. „Die Vermissten“ von Jan Speckenbach ist ganz anders. Auch hier gibt es eine verzweifelte Mutter. Der Film folgt jedoch dem Vater Lothar (André M. Hennicke), der jahrelang gar keinen Kontakt zur inzwischen 14-jährigen Tochter Martha hatte. Er hört von anderen verschwundenen Kindern, stößt aber bei deren Eltern nur auf verschlossene Türen und Ablehnung. Neugierig geworden durch die Begegnung mit einem Ausreißer-Mädchen (Luzie Ahrens), begibt er sich auf die Suche nach Martha und gerät in eine seltsame Welt, in der die Kinder ihren eigenen Regeln folgen und keineswegs die Unschuldigen sind, sondern sich auf faszinierende Weise emanzipiert haben. Irgendwann kippt die Erzählung aus der jetzigen Welt in eine zukünftige – aber keine gute: „Die Vermissten“ ist eine Dystopie über die Entfremdung von Kindern bzw. Jugendlichen und ihren Eltern. Die einen verlassen ihr Zuhause und schließen sich zu einer Art Geheimbund zusammen, verstecken sich im Wald und beklauen Erwachsene. Diese – die anderen – reagieren mit Kälte, Desinteresse und Gewalt: Sie bilden Bürgerwehren, um die als Gefahr empfundene junge Generation zu bekämpfen, auch die Polizeipräsenz wird verstärkt. Eine Atmosphäre von Bedrohung und Hilflosigkeit herrscht in dem Film, die durch die Musik verstärkt wird. Die letzte Sequenz lebt zusätzlich von dem Drehort: ein verlassenes Dorf im Nirgendwo, heruntergekommen und jeden Lebens beraubt. Dort ziehen Horden von kleinen und großen Kindern und Jugendlichen durch, verloren, sich selbst überlassen, aber gleichzeitig auch ganz autonom. Sie helfen sich gegenseitig, machen kaputt, was ihre Eltern aufbauten und verschwinden langsam aus Lothars Blickfeld.
[erschienen im gedruckten Kinokalender 05/2012 und hier]